Wenn Svenja Mayer Mitte August mit ihrem Team nach Tokio aufbricht, hat sie ein Ziel klar vor Augen: Die Goldmedaille im Rollstuhlbasketball der Damen. Vier Jahre haben sie und ihre Teamkolleginnen hart dafür trainiert, jetzt ist jede heiß auf den Sieg. Dass sie einmal mit der Nationalmannschaft zu den Olympischen Spielen nach Japan fliegen wird, hätte sie als junge Frau nicht gedacht. Ihr Herz schlug für das Reiten. Doch ein Unfall setzte ihrem Traum ein jähes Ende – und öffnete eine Tür zu neuen Erfahrungen.
Der erste Vorrundengegner am 26. August heißt Australien. Dann geht es Schlag auf Schlag, jeden Tag ein Spiel. „Wir haben eine stabile Gruppe erwischt“, sagt sie. Mit Australien, Großbritannien, Kanada und Japan sind starke Mannschaften in ihrer Vorrunde. Zwei Gruppen gibt es, jeweils drei Mannschaften kommen weiter. „Man muss schon sagen, jede will Gold gewinnen“, so Mayer. Corona hatte die Vorbereitungen erschwert. Viele Teamkolleginnen konnten nicht wie gewohnt spielen, der erste Lehrgang fand erst im April statt. Doch nach Vorbereitungsturnieren unter anderem in Holland und Köln rechnet sich das deutsche Team gute Chancen auf Edelmetall aus.
Ihren ersten Kontakt zum Rollstuhlbasketball – noch in der BG Unfallklinik Murnau – hat Svenja Mayer nicht in positiver Erinnerung: „Ich habe es gehasst!“, sagt sie in unserem Gespräch. Das lag aber wohl auch daran, dass sie viel lieber wieder reiten wollte. Doch nach ihrem Unfall in 2011 ist eben nichts mehr wie zuvor. Auf dem Heimweg von der Arbeit wird die damals 19-jährige auf dem Fahrrad beim Abbiegen von einem LKW erfasst und lebensgefährlich verletzt. 18 Stunden lang wird sie operiert. Die Verletzungen sind so schwer, dass sie zehn Wochen im Koma liegt und künstlich beatmet wird. Weitere Operationen folgen, allein 2011 wird sie 54 Mal operiert. Es steht zur Diskussion, ob ein Bein amputiert wird, doch die Ärzte können es erhalten. Heute gibt ihr das Bein – trotz Querschnittlähmung – Stabilität im Rollstuhl.
Insgesamt sieben Monate verbringt sie in der BG Unfallklinik Murnau. Noch in der Klinik probiert sie verschiedene Sportarten aus. Doch Basketball liegt ihr nicht: Sie geht nicht gerne mit dem Ball um, und der Sport ist alles andere als zimperlich, was ihr so kurz nach dem Unfall zusätzliche Schmerzen bereitet. Bald aber zeigt sich, dass sie nicht wieder wie erhofft mit ihrem Pferd Turniere reiten kann, und sie gibt dem Rollstuhlbasketball eine zweite Chance. 2015 spielt sie bei den Rolling Chocolates in Heidelberg und lernt dort ihren Freund kennen, der als „Fußgänger“ ebenfalls Rollstuhlbasketball spielt. Der Liebe wegen zieht sie nach Heidelberg. Gemeinsam mit ihrem Freund wechselt sie später zu den Rhine River Rhinos nach Wiesbaden, mit denen sie aktuell in der ersten Bundesliga spielt. Mit der 13 auf dem Trikot, die sie auch in Tokio tragen wird.
Während ihr Freund auch bei Bundesligaspielen mitspielen darf, sind Fußgänger bei den Paralympics nicht zugelassen. Als ihr Co-Trainer fährt er dennoch mit nach Tokio. Zwölf Frauen sind im Team, jede hat eine eigene Punktzahl, die sich aus der individuellen Beeinträchtigung ableitet (siehe Infokasten unten). Die Spieler eines Teams dürfen bei internationalen Begegnungen auf dem Feld insgesamt nur 14 Punkte zusammenbringen. Svenja Mayer bringt 2,5 Punkte mit. Die Teamzusammensetzung hängt also auch wesentlich von der individuellen Behinderung jeder Spielerin ab. Das erschwert auch das Einwechseln. Sonst unterscheidet sich das Regelwerk kaum von den Regeln für Fußgänger-Basketball. Der Korb hängt auf 3,05 Meter Höhe, es gibt Schrittfehler, wenn man ohne zu dribbeln mehr als zwei Mal das Rad antreibt, die Feldgröße ist identisch, und etliches mehr. Das macht den Sport auch für Nicht-Rollstuhlfahrer interessant – egal, ob man nur zuschauen oder selbst im Verein mitspielen möchte.
Aber natürlich ist nicht alles gleich. „Es gehört viel Technik dazu“, sagt Svenja Mayer, die auf dem Feld die Position der Aufbauspielerin besetzt. „Ein 3-Meter-Wurf aus dem Sitzen heraus auf den Korb ist schon anspruchsvoll.“ Auch müssen die Spielerinnen und Spieler im Ballbesitz nicht nur den Ball beherrschen, sondern mit der anderen Hand auch ihren Rolli antreiben. Das erfordert Kraft und Konzentration. Ihr Tag beginnt daher früh um sieben Uhr. Bis neun Uhr ist sie in der Halle und trainiert individuell: Technik und Ausdauer stehen auf dem Plan. „Ballhandling hasse ich nach wie vor wie die Pest“, sagt sie, aber Fahren kann sie dafür schnell. Anschließend steht Physiotherapie auf dem Programm sowie drei bis vier Mal pro Woche Krafttraining. Dann braucht sie eine Pause. Vier bis fünf Stunden sind zum Regenerieren nötig, das stundenlange Sitzen bereitet Probleme. Im Liegen tankt sie Kraft für den Abend, wenn das Teamtraining ansteht. Fünf Tage die Woche zieht sie ihr Programm durch, samstags finden Spiele statt, der Sonntag bleibt zum Erholen.
Rollstuhlbasketball hat Svenja Mayer neue Türen geöffnet. Die ehrgeizige Sportlerin hat dabei aber nicht vergessen, was es heißt, nach einem Unfall als Querschnittgelähmte das eigene Leben komplett neu anzufangen. „Man muss sich Ziele stecken“, sagt sie. „Nur weil man im Rollstuhl ist, ist das Leben ja nicht vorbei.“ Leistungssport mag da nicht für jeden die Lösung sein, dennoch teilt Svenja Mayer ihre Erfahrungen mit anderen Betroffenen. Zwei Mal im Monat besucht sie als Mobilitätslotsin die Station für Querschnittgelähmte an der BG Klinik Ludwigshafen, begleitet dort die Physiotherapeutinnen und -therapeuten und trifft Menschen, die heute in der Situation sind, wie sie damals nach ihrem Unfall. Vertrauen baut sich langsam auf. Die Patientinnen und Patienten stellen ihr Fragen, die sie umtreiben, etwa wie das mit dem Autofahren funktioniert, oder auch mal intimere Fragen. Sie gibt Tipps zu Fördermitteln und Hilfeanträgen und erzählt, wie ihr Alltag mit Rollstuhl aussieht.
Für die nächsten Wochen wird dieses Engagement ruhen müssen. Jetzt freut sich Svenja Mayer erst mal auf Tokio. „Als Sportler arbeitet man vier Jahre hart auf Olympia hin“, so Mayer. Sie hätte es bedauert, wenn man die Spiele abgesagt hätte. Gleichwohl hat sie Verständnis für die Diskussion. „Rollstuhlbasketball ist ein Aushängeschild der Paralympics“, sagt sie, „es ist ein sehr athletischer Sport.“ – Bei dem es auch mal hart zur Sache geht und der in normalen Zeiten zahlreiche Zuschauer anzieht. Aber auf Publikum wird man in diesem Jahr verzichten müssen. Am 14. August geht nun der Flug, das Team reist zunächst nach Tokio für die Einreiseformalitäten und zum PCR-Test. Danach geht es zum Akklimatisieren und zur Vorbereitung ins Pre-Camp nach Kitakyushu. Dann wird es ernst: 26. August: Australien, 27. August: Großbritannien, 28. August: Kanada, 29. August: Japan. Die deutschen Rollstuhlbasketball-Damen rechnen sich gute Chancen aus – Svenja Mayer und ihr Team sind heiß auf Gold. Das Finale wird am 4. September gespielt. Doch ganz gleich, wie es ausgeht, Svenja Mayer ist sich sicher: In vier Jahren, bei den Olympischen Spielen in Paris, will sie wieder dabei sein.
Um faire Ausgangsbedingungen zu gewährleisten, gibt es im Rollstuhlbasketball ein Punktesystem: Je nachdem, wie eine Spielerin eine bestimmte Bewegung – zum Beispiel Lenken des Rollstuhls, Dribblen oder Passen – ausführen kann, bekommt sie einen individuellen Wert zwischen 1 und 4,5 Punkten zugewiesen. Je geringer die Beeinträchtigung, desto höher der Wert. Die Gesamtpunktzahl aller fünf Spielerinnen auf dem Feld darf bei internationalen Begegnungen maximal 14 Punkte betragen, bei nationalen Spielen sind es in Deutschland 14,5 Punkte. Daher ist auch das fliegende Wechseln eine Herausforderung im Rollstuhlbasketball, denn beim Spielerwechsel muss immer darauf geachtet werden, die jeweils geltende Punktgrenze nicht zu überschreiten.
Fotos: Steffie Wunderl / wunderl-fotografie.de
17.08.2021: Textkorrektur Punktgrenzen bei nationalen und internationalen Spielen